Ein Paket kommt ins Haus

Ein niedriges Mietshaus wie viele andere auch, ein vom Lauf der Zeiten gezeichneter Altbau.

Die hölzerne Eingangstür wird geöffnet. Ein kleiner Windhauch fegt die Treppen hinauf, an vier Wohnungstüren vorbei, bis unter das Dach. Es sind kleine, einfache Wohnungen, zwei unten, zwei oben. Die Türen auf einer Etage befinden sich direkt gegenüber, jede mit einem Briefschlitz, einem Spion und drei Schlössern versehen.

Ein Mann betritt das Haus. Unter seinem rechten Arm trägt er ein Paket, in seiner linken Hand hält er ein Klemmbrett mit einigen Zetteln darauf. Er geht an den Briefkästen vorbei und studiert den „Stillen Portier“. Dann dreht sich der Mann um, sieht sich um, schaut auf das Namensschild an der Tür gleich neben der Treppe. Er betätigt die Klingel, hört, wie in der Wohnung eine Glocke anschlägt.

Es öffnet niemand. Auch nicht, nachdem der Mann wiederholt an der Tür geklopft hat. Er geht zur gegenüberliegenden Tür und klingelt dort.

Was er nicht weiß, er wird beobachtet, seit er das Haus betreten hat. Edith hat die ganze Zeit durch den Spion geblickt. Aber nun reagiert sie nicht, schweigt, versucht sogar, ganz leise zu atmen.

„Ist jemand daheim?“

Der Paketbote scheint ihre Anwesenheit zu spüren, ihre Augen auf seiner Haut.

Er klingelt noch einmal, wartet kurz und klopft dann mit seiner Hand an der Tür.

„Wer ist da?“ - Ediths Stimme kommt zögernd und unsicher aus ihrem Mund.

„Ein Paket!“

Edith öffnet die Tür einen Spalt breit.

„Für mich?“

„Für ihren Nachbarn. Aber da öffnet niemand.“

„Er wird nicht zu Hause sein.“ Sie will die Tür schließen.

„Nehmen Sie es mir ab?“

„Sie“, sagt Edith, „Sie sind aber nicht von der Post.“

„Privater Paket und Päckchenservice!“

Er wartet, wartet auf eine Antwort, auf irgend eine Reaktion. Doch Edith steht nur da in ihrem blauen Kleid, ohne Schuhe oder Strümpfe und glotzt.

Er stellt das Paket auf ihrer Fußmatte ab. Sie schaut ihm dabei zu.

„Nun?“

„Ihre Uniform sieht gut aus, besser als die blauen von der Post.“

„Was ist mit dem Paket?“

Sie begutachtet es, schaut es genau an.

„Es ist ja nicht für mich.“

„Sie müssen nichts bezahlen.“ Er will ihr schon sein Klemmbrett reichen, doch sie hält noch immer mit beiden Händen die Tür fest.

„Dann ist es nicht viel wert.“

„Weiß nicht. Wie ist es nun?“

„Soll ich?“

„Es wäre nett von Ihnen.“

„Wenn ich aber nicht möchte?“

„So muß ich noch einmal kommen.“ Der Mann stützt sich mit einer Hand am Türrahmen, atmet hörbar tief ein und aus, immer ein und aus.

„Er“, sie zeigt auf die andere Tür, „er ist immer beschäftigt, immer unterwegs. Wenn er also wieder nicht daheim sein sollte, was machen Sie dann?“

„Dann“, sagt der Bote sehr gedehnt, „muß ich noch ein weiteres mal kommen. Kostet aber extra!“ fügt er hinzu. „Oder ihr Nachbar muß zu unserem Lager kommen.“

„Die Post ist gleich um die Ecke.“

„Ich bin aber nicht von der Post. Es ist ein weiter Weg bis zur Spedition.“

„Dann müssen sie früh raus.“

„Allerdings. Die Straßen sind voll. Schon am frühen Morgen! Der Wagen muß beladen werden. Das dauert. Was ist nun?“

Edith steht einfach da, sagt nichts, tut nichts.

„Also gut“, sagt der Mann mit dem Paket, „ich werde jetzt die Treppen hinauf gehen, werde dort an allen Türen klingeln, werde warten und hoffen, daß irgendwer mir das Paket abnimmt.“

„Wenn Sie möchten, können Sie gern das Paket kurz hier stehen lassen. Ich bleibe auch bei dem Paket, werde es nicht aus den Augen lassen.“

„Danke“, sagt der Mann, dreht sich um und hat gerade die erste Stufe erreicht. „Ich glaube aber nicht, daß jemand Ihnen öffnen wird“, sagt Edith.

„Und warum nicht?“

„Ich glaube nicht, daß überhaupt jemand zu Hause sein wird.“

Der Mann überlegt kurz. „Glauben Sie oder wissen Sie? Ich meine, schauen Sie den ganzen Tag durch Ihr Guckloch, beobachten ganz genau, wer wann aus dem Haus geht und es wieder betritt?“

Edith schaut wortlos erst den Mann und dann das Paket vor ihren Füßen an.

Der Mann geht zurück zu ihrer Tür, stellt sich vor ihr auf.

„Wenn da nun ein Käse . . .“, stottert sie.

„Es ist nur ein Paket!“

„Oder ein Bombe“, Edith zögert. „Vielleicht . . .“ sagt sie schnell. „Da tickt doch etwas. Hören sie nur.“

„Ich - höre - nichts!“

Der Mann sieht sie lange an, als würde er einen Fleck auf ihrem Kleid entdecken und wüßte nicht, ob es schicklich wäre, es ihr zu sagen.

„Bitte!“ sagt Edith, „kommen Sie herein!“ Sie dreht sich um, geht voran in ihr Zimmer.

Der Mann nimmt das Paket und tritt in die Wohnung. An der Tür überlegt er kurz, dann schließt er sie hinter sich. Er folgt ihr durch den Flur ins Zimmer. Ein kleines Sofa steht darin, zwei passende Stühle, ein Tisch, an der Wand ein Regal, daneben ein Sekretär. Die Gardine ist ein Stück zurück gezogen, der Platz vor dem Fenster frei.

„Kann ich Ihnen was anbieten? Vielleicht einen Kaffee!“

„Wenn es keine Umstände macht.“

„Ich brühe Ihnen gern eine Tasse frisch auf.“

„Ein Glas Wasser, gleich so aus der Leitung, genügt mir.“

„Nein! Warum so bescheiden? Sie wollten Kaffee, also bekommen sie auch Kaffee.“

Sie geht aus dem Zimmer.

Der Mann mit dem Paket unter dem Arm sieht sich um, betrachtet alles ganz genau, die Tapete, die Lampe. Er geht zum Fenster, schaut hinaus, zieht anschließend die Gardine richtig zu. Dann geht er zum Tisch, überlegt und stellt das Paket neben den Tisch auf den Boden. Nun nimmt er eine Zeitung vom Tisch, guckt sich die Titelseite an und legt sie wieder zurück, setzt sich kurz auf den Sessel, steht aber gleich wieder auf und geht zum Regal, nimmt ein Buch heraus und blättert darin.

Edith kommt zurück. Sie hat nun Schuhe an.

Der Mann schaut kurz zu ihr.

„Sie haben sich etwas zurecht gemacht“, stellt er fest.

„Der Kaffee ist gleich soweit“, lächelt sie

„Das war aber nicht nötig“, sagt er.

„Was haben Sie da?“

„Ein Buch.“

„Zeigen Sie mal!“

Er reicht es ihr. Doch sie nimmt es nicht, kommt nur näher, stellt sich hinter ihm, um den Titel zu lesen. Dabei berührt ihre Hand fast seine Schulter.

„Eine gute Wahl.“

„Was ist nun mit dem Paket?“

„Es geht doch nichts über den Geruch von frisch aufgebrühtem Kaffee.“

„Ja!“ Er klappt das Buch zu.

„Wenn sie wollen“, sagt Edith, „Ich habe es schon zweimal gelesen. Eigentlich weiß ich nicht, warum ich Bücher im Regal zu stehen habe, die ich nie wieder lesen werde. Nehmen Sie es mit! Ich schenke es Ihnen.“

Er stellt es zurück ins Regal. „Ich habe keine Zeit zum Lesen.“

Edith verschwindet flink in der Küche und ruft: „Der Kaffee ist fertig!“

„Ich benötige nur noch ihre Unterschrift.“ Das Paket läßt er stehen und geht mit seinem Klemmbrett in der Hand in die Küche. „Dann hat alles seine Ordnung!“

Sie reicht ihm eine Tasse.

„Milch oder Zucker?“

„Ich nehme ihn, wie er ist.“

Sie tauschen Tasse und Klemmbrett. Während er trinkt, unterschreibt sie.

„Was machen Sie heute abend?“ fragt sie, legt das Brett auf den Küchentisch, wo eine zweite Tasse steht.

„Nichts“, antwortet er.

„Dann nehmen Sie das Buch mit und lesen Sie es! Es wird Ihnen bestimmt gefallen. Wenn Sie es nicht geschenkt haben möchten, dann bringen Sie es mir einfach wieder zurück.“

Sie läuft aus der Küche, in das Zimmer, zum Regal und holt das Buch.

„Trinken Sie auch eine Tasse!“ ruft er ihr hinterher.

Etwas außer Atem kommt sie zurück.

„Bitte!“

Sie reicht ihm das Buch.

„Danke! Der Kaffee ist gut, genau richtig.“ Er deutet auf den Küchentisch. „Ich habe Ihnen eingegossen.“

Er nimmt das Buch und sein Klemmbrett mit dem unterschriebenen Formular, das die ordnungsgemäße Auslieferung des Paketes bestätigt, und geht.

Zurück bleibt Edith, allein mit einem Paket, das ihr nicht gehört.